Wallonien

Glas- und Kristallerzeugung in der Wallonie

Eva Mendgen

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Wallonien war mit den Regionen Namur und Lüttich (Seraing), sowie Hennegau (Charleroi, Mons) eines der wichtigsten Zentren der europäischen Glasindustrie.

Zu ihren besten Zeiten, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, exportierte die wallonische Glasindustrie 85% ihrer Produktion und beschäftigte etwa 33 000 Menschen.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts spielt die Glasindustrie in Wallonien trotz – oder wegen – des tiefgreifenden Strukturwandels immer noch eine große Rolle in der belgischen Wirtschaft und vermehrt auch in der Kulturgeschichte des Landes.

Produktionsschwerpunkte waren Luxusglas (Kristallglas, geblasen und gepresst), Flachglas (Fensterglas) und Gebrauchsglas (Trinkglas und Flaschen). 

Karte: Glas- und Kristallerzeugung

 

Glas- und Kristallerzeugung

Eva Mendgen, Saarbrücken

Anfänge
Zahlreiche Glasfundstücke aus römischer Zeit legen nahe, dass es in der Region schon zu römischer Zeit Glashütten gegeben hat. (Dafür spricht auch der Fund einer römischen Glashütte auf dem Titelberg im benachbarten Großherzogtum Luxemburg.)

Die Glasindustrie entwickelte sich hier seit dem Ende des 15. Jahrhunderts mehr oder weniger kontinuierlich. In den reichen Regionen Namur und Lüttich spezialisierte man sich im Laufe der Zeit auf die Fabrikation von Luxusglas (Kristallglas ab dem 19. Jahrhundert), im Becken von Charleroi auf Fensterglas bzw. Flachglas.

Seraing, Val Saint Lambert, Januar 2009
Quelle: regiofactum
 

Glas und Kohle
Ab dem 17. Jahrhundert wurden die reichen Steinkohlevorkommen Walloniens in den Regionen Hennegau und Lüttich zur Befeuerung der Glashütten genutzt und diese in der Nähe der Steinkohlenbergwerke errichtet.

Für jene Zeit sind etwa 20 Glashütten in Wallonien nachgewiesen, im 19. Jahrhundert waren es alleine in der Region Charleroi schon etwa 100. Belgien besaß damals die meisten Glasöfen in ganz Europa.
 

Das Kohlebecken von Charleroi im Hennegau
Berühmt waren im 16. und 17. Jahrhundert die feinen Gläser "à la façon de Venise" aus den Werkstätten der Bonhomme und anderer Glasmacher in Lüttich, wo man früh vom Savoir-faire der besten Glasmacher Europas profitierte, zuerst aus Italien, dann aber auch Deutschland, Ostfrankreich (insbesondere Lothringen) und England.

Im 18. Jahrhundert konkurrierte man zunehmend mit der deutschen und vor allem aber der englischen Glasindustrie, die mit einem neuen Produkt, dem Kristallglas, den Markt eroberte.

Kristallglas
In Namur entwickelte Sébastien Zoude um 1760 dann das erste Bleikristallglas außerhalb Englands, er ging damit bis 1776 in Produktion.

Seine Erfindung entfaltete aber erst ab dem 19. Jahrhundert in der Region Namur mit der Glashütte Vonêche (1802 – 1830) und ab 1825 mit der Gründung der Glashütte Val Saint Lambert in Seraing bei Lüttich ihre volle Wirkung – in Kombination mit Wissenstransfer aus Saint-Louis-lès-Bitche im lothringischen Bitscher Land.

Wissenstransfer
Die Figur des Pariser Unternehmers und Wissenschaftlers Aymé Gabriel d’Artigues ist eng verknüpft mit dem Aufschwung der Kristallglasproduktion sowohl in Lothringen als auch in Wallonien.

D’Artigues hatte die erste französische Cristallerie in Saint-Louis-lès-Bitche geleitet, dann die Glashütte im damals französischen Vonêche zur Cristallerie ausgebaut und jene in Baccarat (Lothringen) erworben. Künftig standen diese ersten großen, industriell betriebenen Kristallglashütten in regem Austausch bzw. in Konkurrenz.

Die Bestimmung der Glasprodukte (z.B. Trinkgläser, Trinkservices, Vasen) auf ihre Herkunft ist meistens ausgesprochen schwierig.

Luxusglas, geblasen, "à la Venise", Musée du Verre, Marcinelle
Quelle: regiofactum

Kapitalisierung
Nach der belgischen Revolution 1830 entwickelte sich die Glasindustrie bis 1870 besonders schnell, ein Beispiel dafür ist die Entstehung eines ersten "multinationalen" Konzerns, der "S.A. Manufactures de Glaces, Verres à vitre et Cristaux et Gobeleteries" mit mehreren Glashütten in Wallonien, Brüssel und Frankreich 1836 – 1878.

Eigentümer war die "Société Générale de Belgique", die die Aufgabe hatte, die öffentliche Infrastruktur auszubauen (Straßen, Eisenbahnen, Kanalbau) und die Industrie planmäßig zu entwickeln.

Diese Kapitalgesellschaft erwarb auch die Cristallerie Val Saint Lambert in Seraing, die 1879 wieder unabhängig wurde und die bedeutenden Hohlglashütten (Glas und Kristallglas) der Nachfahren Zoudes in der Region Namur (Jambes, Herbatte), sowie im Maastal (Jemeppes-sur-Meuse) erwarb. Mit ca. 5 000 Beschäftigten um 1900 war  dieses Unternehmen das größte seiner Art.

1) Service Gioconda, Kristallglas mundgeblasen und geschliffen, Design Philippe Wolfers für Val Saint Lambert, 1925
Quelle: Katalog Val Saint Lambert

2) Katalog Flaschenglas, Jumet, frühes 20. Jh., Musée du Verre, Charleroi
Quelle: Glass and Crystal, S. 49

Art Nouveau und Art Déco
Berühmt wurde die Cristallerie Val Saint Lambert nicht nur wegen ihres feinen Kristallglases, sondern auch wegen ihrer Glaskünstler: Nach 1900 spezialisierte man sich auf Kunstglas im Stil des Art Nouveau in seiner lothringischen Prägung.

Mit Hilfe von Künstlern und Designern wie den lothringischen Brüdern Muller wurden neue, künstlerisch, technisch und handwerklich anspruchsvolle Produkte, die das Savoir-faire des Unternehmens ins rechte Licht rückten, auf dem internationalen Markt platziert.

Der französische Grafiker Léon Lédru war 1897 – 1935 Leiter des Dekorationsateliers. Unter Lédru erlebte das Unternehmen vor dem 1. Weltkrieg und in den 1920er und 1930er Jahren den Höhepunkt seines künstlerischen Schaffens.

Formschönes, über Generationen gültiges Design, das die Kristallglasprodukte aus Val Saint Lambert auszeichnete, wurde nun durch Kunstglas im Stil des französischen und belgischen Art Nouveau und des belgischen Art Déco überhöht.

 

Flaschen- und Tafelglas
Im Hennegau, um Charleroi und Mons , konzentrierte man sich vermehrt auf die Produktion von Fensterglas. Neue Technologien vereinfachten die Produktion: Ab 1878 revolutionierten die neuen Wannenöfen (fours à bassin) die Flaschen- und die Fensterglasindustrie.

Im 20. Jahrhundert ermöglichte das "Tafelziehverfahren" des Industriellen und Ingenieurs Emile Fourcault und des Ingenieurs Emile Gobbe eine Mechanisierung der Tafelglasproduktion. 1902 erprobten sie ihre Erfindung erstmals im Werk in Damprémy bei Charleroi.

In den Glashütten in Sulzbach und St. Ingbert im Saargebiet, das damals von der französischen Wirtschaft abhängig war, wurde das Tafelziehverfahren nach Fourcault 1922 zum ersten Mal im Lizenzverfahren angewendet und fortan erfolgreich praktiziert.

Mechanisierung
Die Mechanisierung der Produktion führte zu einem Überangebot an Ware und Arbeitskräften und zum Fallen der Preise. Zahlreiche Glasbläser wanderten nach Übersee aus, 1930 wurde die letzte Tafelglasfabrik aufgegeben, in der noch nach dem alten Verfahren Zylinder geblasen wurden.

Die Wirtschaftskrise der 1930er Jahre führte zu weiteren Schließungen bzw. Konzentrationsprozessen:

Die "Union des Verreries Mécaniques de Belgique" (UNIVERBEL) gründete sich 1930, und 1931 schlossen sich weitere Industrieglashütten par zur "S. A. Glace et Verre" (GLAVER) zusammen, zwei Konzerne, die 1961 unter dem Namen GLAVERBEL external link fusionierten.

Heute
Wallonien ist bis heute vom Strukturwandel gezeichnet, aber immer noch zweitgrößter Tafelglashersteller Europas. Heute sind hier Weltkonzerne ansässig, die ihre Ursprünge unter anderem in der historischen Glasindustrie haben (z.B. Groupe Glaverbel external link, heute Teil von AGC Flat Glass Europe external link, Saint Gobain external link) und die von der über viele Generationen gewachsenen industriellen Infrastruktur profitieren.

Sowohl in Charleroi (Institut Scientifique du Verre) als auch in Lüttich (Université de Liège external link) ist das Material Glas auch im 21. Jahrhundert Gegenstand moderner naturwissenschaftlicher Forschung.

In Val Saint Lambert wird nach wie vor Kristallglas im Manufakturbetrieb produziert; auch wenn Anfang 2009 hier gerade noch 60 Personen beschäftigt sind, setzt man auf eine positive Entwicklung.

Belgische Briefmarke mit Emile Fourcault und Emile Gobbe

Forschung
Leider gibt es bis heute keine umfassende wissenschaftliche Gesamtdokumentation der wallonischen Glasindustrie, ihrer Kultur-, Sozial- oder Wirtschaftsgeschichte. Die alten Glashütten sind, wie anderswo auch, abgerissen, von anderen Industrien überlagert.

Eine eindrucksvolle Ausnahme ist Val Saint Lambert. Heute ist die Kristallerie mit ihren historischen, denkmalgeschützten Gebäuden ein Ort, an dem der Besucher  einen Einblick in den Manufakturbetrieb bekommt. Außerdem befindet sich am Ort ein modernes Unternehmensmuseum.

Die Firmenarchive befinden sich im Corning Glass Museum external link im New York State/USA, wo überhaupt viele Dokumente zur Erforschung der Glasgeschichte der Großregion aufbewahrt werden. Was nicht einer gewissen Logik entbehrt: Immer wieder wanderten Glasmacher aus der Großregion in die USA aus.

 

Spinde von Glasmachern italienischer Herkunft, Wallonien 2009
Quelle: regiofactum

Museen
Die Geschichte des Glases und des Kristalls wird in den Glasmuseen von Lüttich external link (gegr. 1952) und Charleroi external link (gegr. 1973, seit 2007 auf dem Gelände des musealisierten Bergwerks Bois du Cazier in Marcinelle external link bei Charleroi) und anderen öffentlichen Sammlungen, wie dem Musée Archéologique in Namur external link, unter einem internationalen Blickwinkel dargestellt.

Grundlage ist jeweils eine große Privatsammlung. In Marcinelle und Namur verweisen außerdem Sammlungen römischen Glases (Grabfunde) auf die weit zurück liegenden Ursprünge der Glasmacherkunst in der Großregion.

 
 
Musée du Verre
Site du Bois du Cazier
Rue du Cazier, 80
B-6001 Marcinelle
Musée du Verre
Quai de Maestricht, 13
B-4000 Liège
Musée archéologique
Halle al’Chair
21, rue du Pont
B-5000 Namur
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Quellen


Ausstellungskatalog Charleroi 1985: De Glaskunst in Wallonië van 1802 tot heden. Charleroi

Chambon, R. 1955: Histoire du verre en Belgique du IIème siècle à nos jours. Brüssel

Engen, L. & J. Alenus-Lecerf 1989: Le Verre en Belgique des origine à nos jours. Fonds Mercator, Anvers

Kremer, C. und A. Pluymaekers 2007: Val Saint Lambert, 180 ans de savoir-faire et de création. Brüssel

Laurent, I., J.-P. Delande, J. Toussaint und A. Chevalier 1999: L'aventure du cristal et du verre en Wallonie. Brüssel
 

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Externe Links


Corning Glass Museum, New York State external link

Cristal Park, Château du Val Saint-Lambert external link

GLAVERBEL external link

Musée archéologique de Namur external link

Musée du Verre, Bois du Cazier, Marcinelle external link

Musée du Verre, Charleroi external link

Musée du Verre, Liège external link 

Pressglas-Korrespondenz external link
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