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Eisen- und Stahlindustrie
Paul Thomes, Marc Engels
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Die Wiege der kontinentaleuropäischen Industrialisierung stand in der Großregion. Die Schwerindustrie und der Maschinenbau, als Kernkomponenten des Industrialisierungsprozesses, entfachten seit den 1820er Jahren eine beachtliche, über die Region weit hinausreichende ökonomische Relevanz. Die Eisen- und Stahlindustrie prägte nach der Mitte des 19. Jahrhunderts über knapp 150 Jahre hinweg die wirtschaftlichen Strukturen der Großregion. Die Karte zeichnet ihre Biographie von etwa 1900 bis heute nach, während die revierbezogenen Texte erklärend auch über diesen Zeitraum hinausgreifen. Ganz ähnlich wie im Steinkohlenbergbau hat sich die Zahl der Standorte im Laufe der Industrialisierung und Globalisierung mehr oder minder kontinuierlich verringert, während die Produktion ihren Höhepunkt zu Beginn der 1970er Jahre erreichte. Anders als im Bergbau existieren aber bis heute in allen Staaten der GR noch mehrere Eisen- und Stahlstandorte. Mit ArcelorMittal hat auch der weltgrößte Stahlkonzern seinen Sitz an historischer Stelle in Luxemburg. |
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Das Unternehmen erzeugte 2008 weltweit mehr als 103 Millionen Tonnen Stahl, was etwa zehn Prozent der Weltstahlproduktion entsprach. Darüber hinaus vereint es die regionalen Reviere seit 2002 quasi unter einem Dach. Auch wenn die letzten Erzzechen in Differdange 1981 und in Audun-le-Tiche im Département Moselle 1997 ihre Tore schlossen: Die Stahlindustrie der GR lebt noch und hat folglich den massiven Strukturwandel der zurückliegenden Jahrzehnte innovativ und durchaus erfolgreich bewältigt. Erzabbau und Eisengewinnung reichen in der GR, soweit belegbar, mindestens bis in die Römerzeit zurück. Erste schriftliche Dokumente datieren aus dem 15. Jahrhundert, so wie für viele Mittelgebirgsregionen, in denen Raseneisenerze verarbeitet wurden. Seit dem 16. Jahrhundert sind mehrere Standorte der Eisenerzeugung und -verarbeitung durchgängig dokumentiert. |
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Puddelöfen, Stummwerk, Neunkirchen/Saar, 1880http://gr-atlas.uni.lu/index.php/de/articles/wi55/ei192/vo193?id=1359&task=view#sigProIdfe47e5038e Quelle: Stadtarchiv Neunkirchen |
Die materielle Basis bildeten zunächst die oberflächennah lagernden Brauneisensteine in Kombination mit der auskömmlichen Verfügbarkeit von Wasser und Holz. Die sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aufgrund steigender Bedarfe verknappenden lokalen Holz- und Erzvorkommen bewirkten eine elementare Veränderung der Standortfaktoren. Seinerzeit kamen wohl die ersten Kokshochöfen zum Einsatz. Die Erzversorgung erfolgte einerseits zunehmend aus dem weiteren regionalen Umfeld bis jenseits des Rheins. Andererseits ging man sukzessive zur Verwendung der spätestens im 17. Jahrhundert geförderten, wegen ihres vergleichsweise geringen Eisengehalts (ca. 30 bis 35%) so genannten Minette-Erze über, deren Lagerstätten zu den bedeutendsten Vorkommen der Erde zählten. Sie erstrecken sich über eine Fläche von 110 000 ha, davon die übergroße Mehrzahl in Lothringen, 3 740 ha in Luxemburg und 350 ha in Belgien. Die gesamten Reserven wurden auf rund sechs Milliarden Tonnen Erz geschätzt, von denen in den letzten 150 Jahren etwa die Hälfte abgebaut worden sind. |
Die technologischen Voraussetzungen für die Stahlerzeugung auf Kohlebasis und damit für die Nutzung der reichhaltigen örtlichen Kohlevorkommen schuf das 1784 durch Henry Court entwickelte Puddelverfahren. Überdies bewirkte es einen Produktivitätssprung. Eisen und Stahl verbilligten sich, während die Eisenbahn seit den 1830er Jahren als innovatives Verkehrskonzept in mehrfacher Hinsicht wesentlich zu einer rasant steigenden Nachfrage beitrug. Parallel dazu führten die bekannten Kopplungsprozesse zwischen Eisenbahn und Schwerindustrie zur Ausbildung großindustrieller Strukturen. In den 1850er Jahren relativierte sich der Standortvorteil auf dem Erz und der Kohle durch die Einführung des hoch produktiven Bessemerverfahrens, dessen Anwendung der hohe Phosphorgehalt der Minette entgegenstand. Andererseits bot die konstante Nachfrage nach Eisen vorerst gleichwohl eine auskömmliche Existenzgrundlage. |
Einen mächtigen Schub verschaffte dem Revier das den Phosphorgehalt der Minette kompensierende, nach seinem Erfinder Sidney Gilchrist Thomas benannte, Thomas-Verfahren. Seit den 1880er Jahren ermöglichte es die konkurrenzfähige Stahlherstellung mit Minette-Erzen. Erst mit dieser Innovation konnte eine leistungsfähige Stahlindustrie entstehen und zum prägenden industriellen Faktor der GR werden. Binnen wenger Jahre vervielfachte sich die Produktion. Verbunden mit dieser Entwicklung sind Unternehmerfamilien wie Cockerill, de Wendel, Metz, Stumm oder Röchling. Mit der ARBED entstand 1911 in Luxemburg ein in vielerlei Hinsicht wegweisender Stahlkonzern. Die hohe Bedeutung des Montankerns machte die GR in der Folge zum politischen Zankapfel, während die Industrie in vielerlei Hinsicht von den Querelen profitierte. Man denke hier sowohl an den Rüstungs- als auch Wiederaufbaubedarf im Kontext der Weltkriege. |
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Thomas-Birnehttp://gr-atlas.uni.lu/index.php/de/articles/wi55/ei192/vo193?id=1359&task=view#sigProId23c5c776c8 Quelle: Tbachner |
Nicht von ungefähr war Lothringen 1919 hinter den USA mit 41 Millionen Tonnen Jahresförderung der zweitgrößte Eisenerzproduzent der Welt. Die Förderung erreichte im lothringisch-luxemburgischen Revier 1960 den oberen Wendepunkt, bis dato begleitet von einem bestechenden Wachstum der erfolgreich auf den Weltmärkten agierenden regionalen Stahlproduzenten. Davon abgesehen veränderten sich die Standortfaktoren wie angedeutet sehr dynamisch. Den Ausschlag gaben im 19. und 20. Jahrhundert die skizzierten technischen Neuerungen und im weiteren Verlauf des 20. Jahrhundert überdies globalisierungsbedingte Zusammenhänge. Erstere reduzierten den Koks- im Vergleich zum Erzbedarf und ließen die Standorte innerhalb der Reviere von der Kohle zum Erz wandern. |
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Relative Entwicklung der Stahlproduktion in Lothringen, Luxemburg und an der Saar 1913-1957 (Index 1913=100)
http://gr-atlas.uni.lu/index.php/de/articles/wi55/ei192/vo193?id=1359&task=view#sigProId803cd98b4c |
Zugleich setzte sich das integrierte Stahlwerk durch, welches von der Erzverhüttung bis zum Walzen alle Fertigungsschritte an einem Standort vereinte. Die Vorteile der Integration bestanden in der rationellen Produktion und Weiterverarbeitung großer Mengen. Die großen Produktionseinheiten aber waren nicht nur auf die kostengünstige Verfügbarkeit von Erz und Kohle, sondern für die Vermarktung ihrer Produktion auch auf leistungsfähige Transportwege angewiesen. Und hier lag ein für die Zukunft der Branche entscheidendes Defizit, denn es fehlte der Region die für den kostengünstigen Transport von Massengütern unentbehrliche effiziente Wasserstraßenanbindung. Maas, Mosel, Saar und Sambre boten im Verein mit einem durchaus leistungsfähigen Kanalsystem für ein Bestehen im internationalen Wettbewerb letztlich nicht die notwendigen Kapazitäten. |
Dies gilt umso mehr, als seit den 1950er Jahren kostengünstige Eisenerze und Stähle aus Schweden, Brasilien oder Afrika auf den europäischen Markt drängten. Seit den 1960er Jahren wanderte die europäische Stahlindustrie daher an die Küsten, wo sich zudem Importkohle günstig anliefern sowie die Fertig- oder Halbfertigproduktion optimal verfrachten ließen. Nicht von ungefähr diagnostizierte man in den 1960er Jahren erste Symptome einer Strukturkrise. Einerseits erschöpfte sich die Nachkriegskonjunktur, andererseits drängten wie angedeutet neue internationale Anbieter auf den Markt. Entfielen 1950 noch 70,1% der Rohstahlerzeugung auf die USA und die späteren EG-Staaten, betrug die Quote 1964 noch 59,2%, davon 10,7% für die EG-Länder und 1974, einem Rekordjahr der Rohstahlerzeugung, noch 44,1%, davon gerade einmal 3,8% für die EG Produzenten. |
Überkapazitäten führten zu einem ruinösen Wettbewerb, dem selbst massive Konjunkturprogramme, offizielle Kartelle im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) und Subventionen nicht trotzen konnten. Der dramatische Konzentrations- und Schrumpfungsprozess war geprägt durch staatliche Beteiligungen, die Schließung zahlreicher Stahlstandorte, Entlassungen und die Konzentration der Flüssigphase auf möglichst wenige Standorte. Die Versorgung mit den Grundstoffen Erz und Kohle sowie die Verkehrsanbindung sind also entscheidende Standortfaktoren, die es bei der Analyse ebenso im Auge zu behalten gilt, wie technische Innovationen. Die skizzierten Trends rechtfertigen es, auf diesen Seiten den Schwerpunkt der Analyse auf die Entwicklung seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu legen, als die Eisen- und Stahlindustrie der heutigen GR ihre charakteristische Gestalt annahm. |
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Am 31. März 2009 legte ArcelorMittal die Lichtbogenöfen in Gandrange still. Seitdem wird Orne-Tal kein Stahl mehr produziert.http://gr-atlas.uni.lu/index.php/de/articles/wi55/ei192/vo193?id=1359&task=view#sigProId78978a43ad Quelle: © Uwe Niggemeier, stahlseite.de |
Ebenfalls über alle politischen Grenzen hinweg teilen die Standorte in Lothringen, Luxemburg, im Saarland und in der Wallonie in hohem Maße die Standortvorteile und –nachteile. Von technischen Veränderungen waren und sind sie ähnlich betroffen wie von konjunkturellen Schwankungen. Auch sozial-ökonomisch existieren seit jeher enge Verbindungen – ob über Personen in Gestalt von Arbeitnehmern und Unternehmern, mittels Kapitalbeteiligungen oder in Form grenzüberschreitend agierender Unternehmen. |
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Oxygenstahlwerk der ARCELOR in Chertalhttp://gr-atlas.uni.lu/index.php/de/articles/wi55/ei192/vo193?id=1359&task=view#sigProId54e9948b08 Quelle: Harald Finster, Aachen, finster-stahlart.de |
Diese von zahlreichen Gemeinsamkeiten geprägte historische regionale Konstellation formt die aktuelle Unternehmensorganisation nach. Mit der Entstehung des Arcelor-Konzerns im Jahre 2002 führte ein Unternehmen die vier nationalen Reviere - von wenigen Ausnahmen abgesehen - im europäischen Haus unter einem Dach zusammen. Vor diesem Hintergrund vermag die vornehmlich an geographischen Aspekten orientierte Struktur des GR-Atlas unserem Untersuchungsobjekt ob der vielfachen revierübergreifenden Querverbindungen nur eingeschränkt gerecht zu werden. Verweise in den revierbezogenen Texten auf die Entwicklung in den Nachbarregionen überbrücken diese kleine strukturelle Schwäche freilich leicht. |
Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (Hg.), 50 Jahre EGKS-Vertrag. Kohle- und Stahlstatistiken 2002
Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (Hg.), Eisen und Stahl, Jährliche Statistiken. Abschließende Ausgabe - Daten 1993-2002, 2003
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Finster, H.: Panorama-Ansicht Charleroi-Marcinelle
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